Interview mit Dr. Harry Merl (2002)

Willi Geisbauer (WG) interviewte 2002 Dr. Harry Merl (HM), Univ. Doz. Prim. HR, Psychiater und Lehrtherapeut, Pionier lösungsorientierter Familientherapie in Österreich, zum Thema reteaming.

 

WG: Wie hast Du reteaming entdeckt?

HM: Ich habe Ben Furman schon früher bei einem Seminar kennengelernt. Schon damals hat mich sein Ansatz fasziniert. Ich habe reteaming auf seiner Web-Seite gesehen und war begeistert. So schrieb ich an ihn und schlug vor, das Arbeitsbuch auf Deutsch zu übersetzen.

 

WG: Was ist reteaming eigentlich und was leistet es für die Menschen?

HM: Es ist eine Methode, Menschen die in Teams zusammenarbeiten und aus irgendwelchen Gründen die Freude an ihrer Arbeit und die Effektivität der Zusammenarbeit verloren haben, zu helfen, sich daran zu erinnern, woran sie arbeiten, welche Ressourcen sie in Anspruch nehmen können und durch die gegenseitige Anerkennung ihres Beitrags zum Erfolg die Freude an der Arbeit und die Lust an der Neu- oder Weiterentwicklung ihrer Ziele wieder zu finden.

 

WG: Du hast mich auf reteaming vor 20 Jahren aufmerksam gemacht und mich gemeinsam mit deiner Frau besonders bei der reteaming Coach Ausbildung unterstützt und angeregt, diesen Ansatz weiter zu entwickeln. Was waren Deine Beweggründe?

HM: Als dein Supervisor kannte ich dich in deinen Einstellungen und deine Arbeit als Organisationsberater und hatte das Gefühl, dass dieser Zugang dich ansprechen und deine Arbeit nicht nur erleichtern sondern auch noch erfreulicher machen würde. Ich habe mich deshalb besonders darüber gefreut, dass du, nachdem du reteaming bei Ben in Helsinki kennengelernt hattest, an die Ausbildung von reteaming-Coaches herangingst, weil dadurch diese hervorragende Methode, Menschen im Arbeitsfeld für ihre Arbeit in menschengemäßer Weise anzusprechen und wieder zu begeistern, Verbreitung finden würde. Je mehr Menschen etwas Gutes machen, umso besser für die Welt, ist meine Maxime.

 

WG: Was hat dich persönlich motiviert, den lösungsorientierten Ansatz quasi als Pionier in Europa aufzugreifen und auch entscheidend zu prägen?

HM: Ich habe im Laufe meiner Ausbildung und Arbeit nur zu gut das problemorientierte Denken kennengelernt, und dabei den Zustand des Klienten ebenso wie des Helfers erfahren, vor allem wie mühsam es ist, Hoffnung zu wecken. Dabei ist Hoffnung zu entwickeln eine dem Menschen eingebaute Möglichkeit, die man nützen kann. Daraus lebt und schafft er. Wenn ihm Probleme die Hoffnung nehmen, und dies immer mehr, weil er geradezu in einen Zustand gerät, den ich „Problemtrance“ genannt habe, ist es tragisch, weil er dann meint, es gäbe keine oder u.U. nur eine drastische Hilfe, oft mit katastrophalen Folgen. Die Hilfestellungen durch Referenz auf die Vergangenheit sind oft nur „Erklärungen“ aber keine Hilfe. Es waren in erster Linie die Bücher und Seminare von Steve DeShazer, die mich mit dem lösungsorientierten Ansatz bekannt gemacht haben. Die Möglichkeit der Vision von Lösungen, der Blick auf eine erwünschte Zukunft und die Wirkung die sich daraus ergab überzeugten mich, dass dies der Weg war, der notwendig ist, um aus dem Problemdenken herauszukommen, ist es doch offenbar dem Menschen gemäße Weg, für den er naturgemäß ausgerüstet ist. Dazu kam die Wirkung der Komplimente, die ich bei Steve und Insoo beobachtet hatte, als ich die Möglichkeit hatte sie in Milwaukee bei ihrer alltäglichen Arbeit zu beobachten. Die Komplimente beeindruckten mich so sehr als therapeutisches Instrument, dass ich sie selbst in meiner Arbeit immer mehr anwandte und ihre erstaunliche Wirkung zur Ermutigung von Veränderung entdeckte.

 

WG:  Du hast das Gesundheitsbild (u.v.a.) entwickelt, gibt es da Verbindungen zu reteaming?

HM: Aus all dem, was ich im lösungsorientierten Ansatz fand, ergab sich das sog. „Gesundheitsbild“, d.h. die persönliche Vision eines Menschen von seiner Gesundheit oder auch Problemfreiheit und das Konzept des „Traums vom gelungenen Selbst“. Beides zeigte mir, dass dies Schlüssel dafür sind, durch die Menschen zu sich selbst finden, Hoffnung schöpfen, aufblühen und wieder Freude am Leben und vor allem selbst erstaunliche Lösungen ihrer Probleme finden können. Selbst wenn jemand das noch nicht konnte, hatte er doch sein Bild seines erfolgreich sein Könnens gewonnen. Beides erwies sich als äußerst nützlich in der therapeutischen und supervisorischen Arbeit. Beides fand ich bei reteaming mit eingebaut. Ich sehe mich aber nicht als Pionier des lösungsorientierten Ansatzes. Diese Ehre gebührt wirklich Watzlawick, De Shazer, Ben Furman und vielen anderen. Ich habe mit den beiden Konzepten nur dazu beigetragen, Lösungsorientierung fühlbarer zu machen.

 

WG: Was sind die Charakteristika des lösungsorientierten Ansatzes?

HM: Das Charakteristische des Ansatzes ist in erster Linie das Überwinden der sog. Problemtrance mit ihren schlimmen Folgen, wie, Selbst- und Fremdbeschuldigung, Depression bis hin zur Selbstschädigung, und Aktivieren der Fähigkeit, wieder eine Vision von dem zu entwickeln, was man erreichen will. Menschen sind immer unterwegs zu Zielen, tendieren aber unter dem Eindruck von Problemen, das zu vergessen und schließlich zu verzweifeln. Die Problemtrance blockiert die Sicht auf die Vision und die Möglichkeiten sie zu verwirklichen. Genau das führt reteaming wieder ein, indem es die Problemtrance fast auf spielerische Weiser überwinden hilft und die Sicht auf das Ziel und die Möglichkeiten es zu erreichen und auf die Ressourcen richtet.

 

WG: Welche Rolle spielt der Coach in reteaming Prozessen, wodurch ist er dem Klientensystem nützlich?

HM: Er erinnert an die Ziele, ermutigt zur Vision und hält sie aufrecht und führt die gegenseitige Anerkennung als die wichtigste Voraussetzung dafür, die Ziele zu erreichen, ein und hält sie in Gang. Darüber hinaus aktiviert er den Blick auf Ressourcen, so dass die Angesprochenen allmählich merken, dass sie „nicht verloren“ sind“, wie dies die Problemtrance suggeriert und dabei vor allem, dass sie füreinander die größte Ressource sind.

Dadurch stärkt er in geradezu erstaunlicher Weise den Selbstwert der Beteiligten, eben das, was ich den „Traum vom gelungenen Selbst“ genannt habe und löst offenbar bereitliegende Kräfte zu Veränderung der Einstellungen aus, die das Problem geschaffen und aufrecht erhalten haben. Dabei wird ein natürlicher Bedarf des Menschen nach Anerkennung angesprochen, der sehr oft in Systemen zu kurz kommt und besonders dann, wenn sich Probleme entwickeln, deren Lösung schwer erscheint, was, wenn das der Fall ist, sie dazu bringt, ihren Selbstwert durch Selbsterniedrigung oder gegenseitige Beschuldigung zu „retten“. Reteaming löst solche Zustände auf. Der Coach achtet darauf, dass dies geschieht.

 

WG: Was wird Deiner Einschätzung nach in der Zukunft für Menschen, die in Organisationen arbeiten, besondere Bedeutung haben?

HM: In einem Zeitalter, in der die Information und Kommunikation von größter Bedeutung sind, ist es wichtig, dass Menschen befähigt sind, so zu kommunizieren, dass sie zusammenarbeiten können. Dies ist aber nur möglich, wenn sie sich als Menschen wertvoll und gebraucht fühlen. Sie sind nicht mehr nur Bediener von Maschinen, und als solche austauschbar, wenn sie nicht funktionieren, weil die Maschine wichtiger als sie war. Menschen werden immer mehr als der wichtigste Faktor anerkannt sein, der die Effektivität einer Organisation garantieren kann, weil ihre Kreativität bei der Lösung von Aufgaben und den Problemen, die sich dabei stellen, effektive Kommunikation, im Kleinen wie in Netzwerken erst ermöglicht.

 

WG: Herzlichen Dank für Ihre interessanten Ausführungen.

 

Harry Merls Interessensschwerpunkte: Systemerkennung und -veränderung, Humanökologie, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit, Arbeiten mit dem “Reflecting-Team”, zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema “Veränderung” .

Das Interview habe ich 2002 geführt.